Traditionsverein will Chance auf Rückkehr in 2. Bundesliga nutzen.
Der 20. Mai 2007 war ein Sonntag. Rot-Weiss Essen gastierte beim MSV Duisburg, ein Lokalduell. Die Derbystimmung hielt bei den Essenern aber nicht lange an, denn das 562. ist gleichzeitig auch das bis heute letzte RWE-Punktspiel in der 2. Bundesliga. Nur wenige Monate nach dem 100-jährigen Vereinsjubiläum steigt der Traditionsklub durch ein 0:3 beim MSV zum insgesamt sechsten Mal aus dem Unterhaus ab.
Seitdem gab es nur noch vier Pflichtspiele gegen die „Zebras“, zuletzt Ende Oktober des vergangenen Jahres. Und auch diese Partie hat Signalwirkung. Denn nach dem Last-Minute-Sieg an der Wedau (2:1) belegt Essen erstmals in dieser Saison Platz fünf, arbeitet sich zwischenzeitlich sogar auf Rang drei vor. Vor dem Heimspiel am Samstag, 14 Uhr, gegen Aufsteiger SpVgg Unterhaching hat RWE elf Spieltage vor dem Saisonende fünf Punkte Rückstand auf den Relegationsplatz – und damit eine reelle Chance auf den Aufstieg.
Für die Fans ist die 2. Bundesliga nach der Insolvenz 2010 und dem damit verbundenen Abstieg in die fünftklassige Oberliga ein Sehnsuchtsort, dem man nach dem Meistertitel in der Regionalliga West 2022 und dem Aufstieg in die 3. Liga erstmals wieder nahekommt. Der Traum lebt also – und die Vereinsführung stellt längst die Weichen dafür.
Daran soll auch der vor wenigen Tagen bekanntgewordene Rückzug des Vorstandsvorsitzenden Marcus Uhlig (53/Foto) und von Finanzvorstand Sascha Peljhan (46) nichts ändern. Die beiden eng befreundeten Funktionäre werden spätestens zum Saisonende ausscheiden. Mit Marc-Nicolai Pfeifer (43), zuletzt Geschäftsführer beim Ligakonkurrenten TSV 1860 München und aktuell bei den „Löwen“ noch unter Vertrag, steht der Nachfolger bereits fest. Pfeifer soll mit Marketingvorstand Alexander Rang (45) künftig eine Doppelspitze bilden.
„Sechseinhalb Jahre bei RWE sind wie 20 Jahre bei einem anderen Verein. Die zahlreichen Herausforderungen haben Körner gekostet“, begründet Uhlig im kicker-Gespräch seine „Amtsmüdigkeit“ trotz des aktuellen sportlichen Erfolges und der zuletzt gelungenen finanziellen Konsolidierung. „Es ist in mir schon seit einiger Zeit die Entscheidung gereift, dass es Zeit wird für einen Wechsel“, so Uhlig. Wichtig ist ihm dabei aber eine geordnete Übergabe der Geschäfte. „Es wird kein Vakuum entstehen. Bis zum letzten Tag werden Sascha und ich 100 Prozent geben. Darauf kann sich jeder verlassen.“
Entsprechend würde Uhlig, der früher schon viele Jahre bei Arminia Bielefeld tätig war und dort schon zwei Aufstiege aus der 3. Liga erlebte, seine Amtszeit nur zu gerne mit der Rückkehr in die 2. Bundesliga krönen. „Alles kann, nichts muss“, formuliert der Noch-Vorstandsvorsitzende, seit dessen Amtsübernahme im Jahr 2018 eine stetige sportliche Aufwärtsentwicklung nicht zu übersehen ist. Klar ist: Das offizielle Saisonziel, besser abzuschneiden als in der vorherigen Spielzeit (als Platz 15), ist bereits jetzt erreicht. Nun geht es also nur noch um die Zugabe.
Dass die Rot-Weissen zumindest an den Spitzenplätzen schnuppern dürfen, hat mit vielen richtigen Entscheidungen zu tun. Die vor knapp einem Jahr neu installierte Sportliche Führung mit Christian Flüthmann (41/Sportdirektor) und Marcus Steegmann (43/Direktor Profifußball) hielt im letzten Frühjahr an Christoph Dabrowski (Foto unten) fest, obwohl der bei einem Teil der Fanszene als Sündenbock für eine enttäuschende Rückserie hatte herhalten müssen. Die Kritik ging so weit, dass sogar „Dabrowski raus“-Schals produziert wurden. Gerade einmal neun Monate später werden die RWE-Verantwortlichen jetzt dafür gefeiert, dass es gelang, den Vertrag mit „Dabro“ um zwei Jahre zu verlängern.
Vom Judas zum Messias. Nur an wenigen Fußballstandorten schlagen die Emotionen so stark in beide Richtungen aus wie an der Hafenstraße. Gerade deshalb tut Dabrowski dem notorisch aufgeregten Umfeld des Klubs mit seiner ruhigen Art sehr gut, ist aber auch extrem ehrgeizig. „Wir wollen jetzt auch oben dranbleiben und das Bestmögliche aus dieser Saison herausholen“, sagt der Ex-Profi, der vor seiner Vertragsverlängerung über die angedachten Veränderungen im Vorstand informiert war und deshalb zunächst auch ein wenig mit seiner Zusage zögerte. Schließlich geht mit Uhlig ein Vertrauensmann, der dem Trainer auch in schwierigen Zeiten immer den Rücken gestärkt hatte. Der Erfolg gab ihm Recht.
Sehr oft richtig lagen die Essener auch bei ihren Transfers. Vinko Sapina (28/vom SC Verl) wurde auf Anhieb zum Fixpunkt und nach der Trennung von Felix Bastians (35) im Herbst sogar zum Kapitän. Lucas Brumme (24/SV Wehen Wiesbaden) kam als Flügelstürmer und avancierte als Linksverteidiger zum Leistungsträger. Marvin Obuz (22), vom 1. FC Köln ausgeliehen, ist mit 16 Torbeteiligungen der Topscorer des Teams. Auch Rechtsverteidiger Eric Voufack (22/1. FC Lok Leipzig) und Angreifer Leonardo Vonic (20/1. FC Nürnberg II) erkämpften sich Stammplätze und sorgten mit dafür, dass RWE nach den beiden U 23-Teams aus Freiburg und Dortmund mit einem Durchschnittsalter von unter 24 Jahren die jüngste Stammformation der 3. Liga stellt.
Torhüter Jakob Golz (25) und Innenverteidiger Felix Götze (26) gehören auf ihren Positionen ligaweit zu den stärksten Spielern. Auch die beiden weiteren Abwehrspieler José-Enrique Rios Alonso (23) und Eigengewächs Mustafa Kourouma (21) oder die Mittelfeldmotoren Torben Müsel (24) und Urgestein Cedric Harenbrock (25/seit 2017 im Verein) haben unter Dabrowski große Schritte nach vorne gemacht. Eine wesentliche Aufgabe der Sportlichen Leitung wird es daher sein, möglichst viele Stammspieler mit auslaufenden Verträgen zu binden, unabhängig von der künftigen Spielklasse.
Schwierig dürfte das vor allem bei Götze und Obuz werden. Ersterer will unbedingt in die 2. Liga, bei Letzterem ist es schwer vorstellbar, dass er wegen der Transfersperre seines Stammvereins keine Rolle in den FC-Planungen spielt, erst recht bei einem möglichen Abstieg. Da wird aus RWE-Sicht viel Geduld gefragt sein.
Zweigleisig laufen auch längst die Planungen im wirtschaftlichen Bereich. Erstmals seit 2007 wird RWE bis zum Stichtag 1. März neben der Zulassung für die 3. Liga beim DFB eine Lizenz für die 2. Bundesliga auch bei der DFL beantragen. Im Aufstiegsfall würden die um das Vier- bis Fünffache höheren TV-Gelder (aktuell 1,3 Millionen Euro) die Planungen erleichtern. „Wir rechnen aber in beiden Verfahren mit keinerlei größeren Schwierigkeiten“, meint Dr. André Helf (57), Vorsitzender des Aufsichtsrates.
Das ist alles andere als selbstverständlich, nachdem RWE für das Geschäftsjahr 2022, bei dem noch das vorerst letzte Halbjahr in der Regionalliga zählt, ein Minus von 3,63 Millionen Euro und einen Anstieg der Verbindlichkeiten auf 6,4 Millionen Euro ausweisen musste. Dazu hatten unter anderem die Insolvenz des vorherigen Hauptsponsors „Harfid“, eines Essener Bauunternehmens, eine ausgebliebene Spende für Neu- und Umbaumaßnahmen im Nachwuchsleistungszentrum (NLZ), deutlich gestiegene Personal- und Spielbetriebskosten sowie die Neugestaltung des Trainingsgeländes beigetragen.
Inzwischen wurde das Ruder herumgerissen. Die DFB-Auflage, das Geschäftsjahr 2023 mit einem Gewinn von 160 000 Euro anzuschließen, werden die Essener sogar leicht übertreffen. Für den Fall einer weiteren Drittligasaison kann das bisherige Budget mindestens gehalten werden, an einer weiteren Steigerung wird gearbeitet. Das erneute Erreichen des DFB-Pokals würde weiteren Spielraum verschaffen.
Möglich wurden viele Investitionen (und der sportliche Erfolg) in den letzten Jahren nur deshalb, weil der Mode-Unternehmer und Noch-Finanzvorstand Sascha Peljhan dem Verein als Anschubfinanzierung ein Darlehen in Höhe von rund drei Millionen Euro zu äußerst günstigen Konditionen und sehr moderaten Rückzahlungsverpflichtungen zur Verfügung gestellt hatte. Umso wichtiger für den Traditionsklub, dass Peljhan zwar aus dem operativen Geschäft ausscheidet, RWE aber als Darlehensgeber und Sponsor erhalten bleibt.
Vor dem Abschluss stehen die Baumaßnahmen im NLZ an der Seumannstraße, wo der Verein eine siebenstellige Summe investiert. Das neue Jugendstadion mit Hybridrasen und überdachter Tribüne wird bis zum Beginn der kommenden Saison fertiggestellt sein. Ein Kunstrasenspielfeld und ein Laufhügel können bereits genutzt werden. Über einen Neubau oder eine Sanierung des ebenfalls in die Jahre gekommenen Funktionsgebäudes laufen aktuell noch Gespräche mit der Stadt.
Schon einen Schritt weiter sind die Planungen für das Stadion an der Hafenstraße. Noch im März soll sich damit der Essener Stadtrat befassen, ihm liegt ein Antrag zum Ausbau des Stadions von aktuell rund 19 500 Plätzen auf ein Fassungsvermögen von 26 500 Zuschauern vor. Es geht zwar (noch) nicht um die kalkulierten Baukosten in Höhe von knapp 22 Millionen Euro. Dennoch ginge von der Ratsentscheidung, Mittel in Höhe von 950 000 Euro für Bauplanung und Architekturkosten freizugeben, Signalwirkung aus. Es wäre ein (vor-) entscheidender Schritt zur Realisierung des ehrgeizigen Projekts.
Klar ist: Mit den aktuellen Zuschauer- und vor allem VIP-Plätzen bewegt sich der Verein bei einem aktuellen Schnitt von 16 265 Fans pro Heimspiel beim derzeitigen Fassungsvermögen bereits am Limit. Der Heimbereich ist oft ausverkauft. Um dem Klub die Möglichkeit zu eröffnen, mehr Einnahmen zu generieren (und dann beispielsweise auch eine höhere Stadionmiete zahlen zu können), ist die Erhöhung der Kapazitäten wohl alternativlos. Dazu weist Oberbürgermeister Thomas Kufen, der für das Projekt wirbt, immer wieder darauf hin, dass nur durch die Erweiterung der Spielstätte auch ein Angebot von mehr als 20 000 Sitzplätzen erreicht werden kann, um wieder verstärkt bei Länderspielen von Frauen- und Junioren-Nationalmannschaften oder gar bei Turnieren berücksichtigt zu werden. Außerdem würde auch die SGS Essen, die ihre 20. Saison in Folge in der Frauen-Bundesliga absolviert, als zweite Stadionnutzerin profitieren.
Der RWE-Pachtvertrag mit dem Stadioneigentümer GVE (Tochterunternehmen der Stadt) läuft noch bis zum 30. Juni 2027. Die Verhandlungen für die Zukunft, dann vielleicht schon ab der Saison 2027/2028 mit geschlossenen Stadionecken, sind bereits angelaufen. Für RWE wäre es ein Meilenstein auf dem weiteren Weg nach oben. Oder wie sagte doch Trainer Dabrowski nach seiner Vertragsverlängerung: „Mit der Wucht der Hafenstraße im Rücken ist noch einiges möglich.“ Vielleicht sogar bald die 2. Liga.
Foto-Quelle: Rot-Weiss Essen
Autor: Ralf Debat